Jean Baudrillard und sein Begriffsverständnis von Simulation
Jean Baudrillard war ein französischer Soziologe, Philosoph, Literaturkritiker, Übersetzer, Schriftsteller und Fotograph.
1) Baudrillards Leben
20. Juli 1929 Jean Baudrillard wird in Reims geboren.
==> Baudrillard studiert zunächst Germanistik an der Sorbonne
in Paris.
1958 – 1966 Deutschlehrer an einer
französischen Oberschule. Zugleich
betätigte sich Baudrillard als
Literaturkritiker und Übersetzer
(Friedrich Hölderlin, Bertolt Brecht,
Peter Weiss) und studierte Philosophie
und Soziologie.
1968 Promotion „Le Système des Objets“ („Das
System der Dinge“). Im gleichen
Jahr übernimmt er einen Lehrstuhl für
Soziologie an der Universität Paris-
Nanterre.
1966 – 1970 Baudrillard unterrichtet.
1976 Es erscheint sein Hauptwerk „Der
symbolische Tausch und der Tod“, das
bald ein zentrales philosophisches Werk
der Postmoderne darstellt.
1987 Er habilitiert mit „L’Autre par lui-
même“ („Das Andere selbst“).
1986 – 1990 Directeur Scientifique
(Wissenschaftlicher Direktor) am IRIS
(Institut de Recherche et d’Information
Socio-Èconomique) an der Université de
Paris-IX Dauphine.
1995 Er erhält zusammen mit Peter
Greenaway den Siemens-Medien-Preis.
6. März 2007 Jean Baudrillard stirbt nach
langjähriger Krankheit in Paris.
==> Baudrillard war bis zu seinem Tod
Professor für
Medien und Kultur an der European Graduate School
in Saas-Fee in der Schweiz. Neben seiner Arbeit auf
dem Gebiet der Philosophie widmete er sich auch
der Fotographie.
2) Ausgewählte Werke
3) Was versteht Baudrillard unter Simulation?
„Simulieren heißt fingieren, etwas zu haben, was man nicht hat. (...) Doch die Sache ist komplizierter, denn Simulieren ist nicht gleich Fingieren: ‚Jemand, der eine Krankheit fingiert, kann sich einfach ins Bett legen und den Anschein erwecken, er sei krank. Jemand, der eine Krankheit simuliert, erzeugt an sich eigene Symptome dieser Krankheit‘ (so das Wörterbuch von Littré). Beim Fingieren wird das Realitätsprinzip nicht angetastet: die Differenz ist stets klar, sie erhält lediglich eine Maske. Dagegen stellt die Simulation die Differenz zwischen ‚Wahrem‘ und ‚Falschem‘, ‚Realen‘ und ‚Imaginärem‘ immer wieder in Frage. Ist ein Simulant, also jemand, der wahre Symptome produziert, krank oder nicht?“
Baudrillard unterscheidet verschiedene historische Formen von Simulakren (Imitation, Produktion, Simulation – siehe Blogeintrag 2: „Definition von Simulieren“) und beschäftigt sich besonders mit dem Simulakrum als dem dominanten Simulakrum der durch Massenmedien bestimmten heutigen Gesellschaft. Das Merkmal dieses modernen Simulakrums besteht nach Herrn Baudrillard darin, dass es unmöglich geworden ist, zwischen Original und Kopie, Realität und Fiktion, Vorbild und Abbild zu unterscheiden.
Identisch dazu ist Philip K. Dicks Werk „The Simulacra“ und der Aspekt der stillschweigenden, hinnehmenden Masse der Be.
„Der einzig noch funktionierende Referent ist der der schweigenden Mehrheit. Alle gegenwärtigen Systeme funktionieren über diese undurchsichtige Einheit, deren Existenz keine gesellschaftliche sondern eine statistische ist und deren Erscheinungsweise die Meinungsforschung ist. Simulakrum am Horizont des Sozialen – oder vielmehr: Simulakrum, hinter dem das Soziale bereits verschwunden ist.“
Anhand von wiederholenden Tests überprüft die Regierung, ob die Be-Gesellschaft (die Masse) noch für den ihnen ausübenden Job qualifiziert sind bzw. ob sie noch weiter im Appartement wohnen dürfen. Unter anderem ist auch dieser Faktor in Baudrillards Schrift „Politik und Simulation“ feststellbar.
„Die Massen drücken sich nicht aus. Man sondiert sie per Meinungsumfrage. Sie reflektieren sich nicht, man testet sie. Meinungsumfragen, Tests, Referendum, Medien sind Dispositive, die nicht mehr einer repräsentativen, sondern einer simulativen Dimension angehören.“
In Requiem für die Medien (1972) entwirft Baudrillard eine Art „Anti-Medientheorie“. Seine Theorie der „Simulation“ stellt fest, dass gegenwärtig die Bilder der Wirklichkeit, die vor allem über die Massenmedien vermittelt werden, wichtiger und wirklichkeitsmächtiger geworden sind als die Wirklichkeit selbst.
„Die Masse ist [...] ein Simulationsmodell.“
Die durch die Medien simulierte Welt ist zur Scheinwelt, zum Simulakrum geworden, die in Form einer Hyperreältität die wirkliche Welt verdrängt.
„Bombardiert mit Stimuli, Botschaften und Tests sind die Massen nichts anderes mehr als eine opake, blinde Ablagerung [...]
Des Weiteren versteht Baudrillard unter dem Begriff Simulation auch die Abbildung bzw. die Nachbildung der Meinung Anderer. Um selbst nicht mehr denken und sich für eine Meinung entscheiden zu müssen, übernimmt man also automatisch die eines Anderen. So bekommt man ein fertiges, eingepacktes Geschenk – eine gefestigte, ausgebaute Meinung mit Argumenten für ihre Befürwortung. In diesem Falle übernimmt man aber nicht die Meinung eines Gleichgestellten, sondern die Meinung eines Systems, einer Behörde – also eine öffentliche Meinung.
„Es ist nicht mehr nötig, dass jemand sich eine eigene Meinung bildet, sich und sie anderen konfrontiert – vielmehr müssen alle die öffentliche Meinung nachbilden, in dem Sinne, dass alle sich in dieses allgemeine Äquivalent stürzen, auf dieses Simulationsmodell, und damit von neuem zu Werke gehen.“
„Im Gegensatz zur Dissimulation, die immer eine verborgene Wahrheit voraussetzt, eröffnet die Simulation ein politisches Universum, in der alle Hypothesen zugleich umkehrbar und wahr (oder falsch) sind."
Bsp.: „Ist ein Bombenattentat in Italien die Tat von Linksextremisten oder eine Provokation der extremen Rechten, ist es eine Inszenierung des Zentrums, um alle terroristischen Extremisten in Misskredit zu bringen oder eine wacklige Macht herunterzumachen, oder handelt es sich vielleicht um ein Polizei- Scenario und eine Erpressung zur öffentlichen Sicherheit?“
Bsp.: (Zum Vergleich aus „The Simulacra“) Ist die Bewegung der Söhne des Hiob eine Revolte gegen die Regierung, zusammengestellt aus protestierenden Bes, oder ein Mittel des Berthold Goltz zur Machterlangung oder eine Inszenierung des Staates (der Ge), um ein Gleichgewicht zu schaffen, damit keine „echte“ Revolution entsteht. Oder handelt es sich ebenfalls um eine Simulation, diesmal aber von außerhalb. [Anmerkung. Erst am Ende des Buches wird das Geheimnis dieser Bewegung gelüftet, davor stehen alle diese Möglichkeiten offen]
All dies ist gleichzeitig wahr und die Suche nach den Beweisen (je nach der Objektivität der Fakten) hört nicht auf.
„Wir bewegen uns nämlich in einer Logik der Simulation, die mit einer Logik der Fakten und einer Ordnung der Gründe nichts mehr zu tun hat.“
Literaturnachweis
Derveaux Rene: „Jean Baudrillard: Wahrheit, Realität, Simulation, Hyperrealität“. In: ders.: „Melancholie im Kontext der Postmoderne“, Berlin: WVB 2002
Interview mit Jean Baudrillard von 2000 (taz): "Man muss sich vor der Wahrheit hüten"
(Url: http://www.taz.de/index.php?id=archivseite&dig=2000/11/22/a0119)
Nachruf über „Jean Baudrillard“ von Stefan Höltgen in der Wochenzeitung Freitag, 16.03.2007
(Url: http://www.freitag.de/2007/11/07111701.php)
Samuel Strehle: „Jenseits des Realitätsprinzips. Zum Tod des Philosophen Jean Baudrillard.“, Sic et Non Nr. 8/2007
(Url: http://www.sicetnon.org/content/pdf/baudrillard.pdf)
Venus, Jochen: „Referenzlose Simulation? Argumentationsstrukturen postmoderner Medientheorie am Beispiel von Jean Baudrillard.“, Würzburg: Königshausen & Neumann 1997
Jean Baudrillard: „Politik und Simulation.“ In: ders.: „Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen.“, Berlin: Merve Verlag 1978, S. 40
Bild: erenguevercin.wordpress.com
1) Baudrillards Leben
20. Juli 1929 Jean Baudrillard wird in Reims geboren.
==> Baudrillard studiert zunächst Germanistik an der Sorbonne
in Paris.
1958 – 1966 Deutschlehrer an einer
französischen Oberschule. Zugleich
betätigte sich Baudrillard als
Literaturkritiker und Übersetzer
(Friedrich Hölderlin, Bertolt Brecht,
Peter Weiss) und studierte Philosophie
und Soziologie.
1968 Promotion „Le Système des Objets“ („Das
System der Dinge“). Im gleichen
Jahr übernimmt er einen Lehrstuhl für
Soziologie an der Universität Paris-
Nanterre.
1966 – 1970 Baudrillard unterrichtet.
1976 Es erscheint sein Hauptwerk „Der
symbolische Tausch und der Tod“, das
bald ein zentrales philosophisches Werk
der Postmoderne darstellt.
1987 Er habilitiert mit „L’Autre par lui-
même“ („Das Andere selbst“).
1986 – 1990 Directeur Scientifique
(Wissenschaftlicher Direktor) am IRIS
(Institut de Recherche et d’Information
Socio-Èconomique) an der Université de
Paris-IX Dauphine.
1995 Er erhält zusammen mit Peter
Greenaway den Siemens-Medien-Preis.
6. März 2007 Jean Baudrillard stirbt nach
langjähriger Krankheit in Paris.
==> Baudrillard war bis zu seinem Tod
Professor für
Medien und Kultur an der European Graduate School
in Saas-Fee in der Schweiz. Neben seiner Arbeit auf
dem Gebiet der Philosophie widmete er sich auch
der Fotographie.
2) Ausgewählte Werke
- • „ Der Symbolische Tausch und der Tod“, München: Mathes
& Seitz 1982
• „Agonie des Realen“, Berlin: Merve 1987
• „Simualcres et Simulation“, Paris: Editions Galilée 1981, engl.: „Simulacra & Simulation“, Michigan: University of Michigan Press 1994
• „Von der Verführung“, München: Matthes & Seitz 1992
• „Der reine Terrorismus“, Wien: Passagen 1993
• „Die Intelligenz des Bösen“, Wien: Passagen 2006
3) Was versteht Baudrillard unter Simulation?
„Simulieren heißt fingieren, etwas zu haben, was man nicht hat. (...) Doch die Sache ist komplizierter, denn Simulieren ist nicht gleich Fingieren: ‚Jemand, der eine Krankheit fingiert, kann sich einfach ins Bett legen und den Anschein erwecken, er sei krank. Jemand, der eine Krankheit simuliert, erzeugt an sich eigene Symptome dieser Krankheit‘ (so das Wörterbuch von Littré). Beim Fingieren wird das Realitätsprinzip nicht angetastet: die Differenz ist stets klar, sie erhält lediglich eine Maske. Dagegen stellt die Simulation die Differenz zwischen ‚Wahrem‘ und ‚Falschem‘, ‚Realen‘ und ‚Imaginärem‘ immer wieder in Frage. Ist ein Simulant, also jemand, der wahre Symptome produziert, krank oder nicht?“
Baudrillard unterscheidet verschiedene historische Formen von Simulakren (Imitation, Produktion, Simulation – siehe Blogeintrag 2: „Definition von Simulieren“) und beschäftigt sich besonders mit dem Simulakrum als dem dominanten Simulakrum der durch Massenmedien bestimmten heutigen Gesellschaft. Das Merkmal dieses modernen Simulakrums besteht nach Herrn Baudrillard darin, dass es unmöglich geworden ist, zwischen Original und Kopie, Realität und Fiktion, Vorbild und Abbild zu unterscheiden.
Identisch dazu ist Philip K. Dicks Werk „The Simulacra“ und der Aspekt der stillschweigenden, hinnehmenden Masse der Be.
„Der einzig noch funktionierende Referent ist der der schweigenden Mehrheit. Alle gegenwärtigen Systeme funktionieren über diese undurchsichtige Einheit, deren Existenz keine gesellschaftliche sondern eine statistische ist und deren Erscheinungsweise die Meinungsforschung ist. Simulakrum am Horizont des Sozialen – oder vielmehr: Simulakrum, hinter dem das Soziale bereits verschwunden ist.“
Anhand von wiederholenden Tests überprüft die Regierung, ob die Be-Gesellschaft (die Masse) noch für den ihnen ausübenden Job qualifiziert sind bzw. ob sie noch weiter im Appartement wohnen dürfen. Unter anderem ist auch dieser Faktor in Baudrillards Schrift „Politik und Simulation“ feststellbar.
„Die Massen drücken sich nicht aus. Man sondiert sie per Meinungsumfrage. Sie reflektieren sich nicht, man testet sie. Meinungsumfragen, Tests, Referendum, Medien sind Dispositive, die nicht mehr einer repräsentativen, sondern einer simulativen Dimension angehören.“
In Requiem für die Medien (1972) entwirft Baudrillard eine Art „Anti-Medientheorie“. Seine Theorie der „Simulation“ stellt fest, dass gegenwärtig die Bilder der Wirklichkeit, die vor allem über die Massenmedien vermittelt werden, wichtiger und wirklichkeitsmächtiger geworden sind als die Wirklichkeit selbst.
„Die Masse ist [...] ein Simulationsmodell.“
Die durch die Medien simulierte Welt ist zur Scheinwelt, zum Simulakrum geworden, die in Form einer Hyperreältität die wirkliche Welt verdrängt.
„Bombardiert mit Stimuli, Botschaften und Tests sind die Massen nichts anderes mehr als eine opake, blinde Ablagerung [...]
Des Weiteren versteht Baudrillard unter dem Begriff Simulation auch die Abbildung bzw. die Nachbildung der Meinung Anderer. Um selbst nicht mehr denken und sich für eine Meinung entscheiden zu müssen, übernimmt man also automatisch die eines Anderen. So bekommt man ein fertiges, eingepacktes Geschenk – eine gefestigte, ausgebaute Meinung mit Argumenten für ihre Befürwortung. In diesem Falle übernimmt man aber nicht die Meinung eines Gleichgestellten, sondern die Meinung eines Systems, einer Behörde – also eine öffentliche Meinung.
„Es ist nicht mehr nötig, dass jemand sich eine eigene Meinung bildet, sich und sie anderen konfrontiert – vielmehr müssen alle die öffentliche Meinung nachbilden, in dem Sinne, dass alle sich in dieses allgemeine Äquivalent stürzen, auf dieses Simulationsmodell, und damit von neuem zu Werke gehen.“
„Im Gegensatz zur Dissimulation, die immer eine verborgene Wahrheit voraussetzt, eröffnet die Simulation ein politisches Universum, in der alle Hypothesen zugleich umkehrbar und wahr (oder falsch) sind."
Bsp.: „Ist ein Bombenattentat in Italien die Tat von Linksextremisten oder eine Provokation der extremen Rechten, ist es eine Inszenierung des Zentrums, um alle terroristischen Extremisten in Misskredit zu bringen oder eine wacklige Macht herunterzumachen, oder handelt es sich vielleicht um ein Polizei- Scenario und eine Erpressung zur öffentlichen Sicherheit?“
Bsp.: (Zum Vergleich aus „The Simulacra“) Ist die Bewegung der Söhne des Hiob eine Revolte gegen die Regierung, zusammengestellt aus protestierenden Bes, oder ein Mittel des Berthold Goltz zur Machterlangung oder eine Inszenierung des Staates (der Ge), um ein Gleichgewicht zu schaffen, damit keine „echte“ Revolution entsteht. Oder handelt es sich ebenfalls um eine Simulation, diesmal aber von außerhalb. [Anmerkung. Erst am Ende des Buches wird das Geheimnis dieser Bewegung gelüftet, davor stehen alle diese Möglichkeiten offen]
All dies ist gleichzeitig wahr und die Suche nach den Beweisen (je nach der Objektivität der Fakten) hört nicht auf.
„Wir bewegen uns nämlich in einer Logik der Simulation, die mit einer Logik der Fakten und einer Ordnung der Gründe nichts mehr zu tun hat.“
Literaturnachweis
Derveaux Rene: „Jean Baudrillard: Wahrheit, Realität, Simulation, Hyperrealität“. In: ders.: „Melancholie im Kontext der Postmoderne“, Berlin: WVB 2002
Interview mit Jean Baudrillard von 2000 (taz): "Man muss sich vor der Wahrheit hüten"
(Url: http://www.taz.de/index.php?id=archivseite&dig=2000/11/22/a0119)
Nachruf über „Jean Baudrillard“ von Stefan Höltgen in der Wochenzeitung Freitag, 16.03.2007
(Url: http://www.freitag.de/2007/11/07111701.php)
Samuel Strehle: „Jenseits des Realitätsprinzips. Zum Tod des Philosophen Jean Baudrillard.“, Sic et Non Nr. 8/2007
(Url: http://www.sicetnon.org/content/pdf/baudrillard.pdf)
Venus, Jochen: „Referenzlose Simulation? Argumentationsstrukturen postmoderner Medientheorie am Beispiel von Jean Baudrillard.“, Würzburg: Königshausen & Neumann 1997
Jean Baudrillard: „Politik und Simulation.“ In: ders.: „Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen.“, Berlin: Merve Verlag 1978, S. 40
Bild: erenguevercin.wordpress.com
würmchen - 11. April, 17:25